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WERNER RIEGER

Erfahrungen eines Bildmalers (Fragment) Februar 1992

Meine Bilder haben mit Kunst nichts zu tun; ich verbitte mir das", pflegt einer meiner Kollegen zu sagen, wenn man in seiner Gegenwart auf Kunst zu sprechen kommt. (Er malt immerhin so gute Bilder, daß er bis an sein Lebensende mit Vorbestellungen zu beachtlichen Preisen ausgelastet ist.)

Dem Leser wird es unbegreiflich erscheinen, Bilder und Kunst so radikal voneinander zu trennen. Aber mein Kollege hat dafür triftige Gründe: Das Bild - gemeint ist das Tafelbild - unterliegt Gesetzen, während der Kunstbegriff bestenfalls zu umschreiben ist (vgl. Borgeest: Das Kunsturteil). Andererseits können schon die Skizze, die Studie und das Experiment zur Kunst gerechnet werden, ohne als Bilder zu gelten. Häufig aber wird auch das Abbild mit dem Bild ebenso verwechselt wie Ausbildung mit Bildung.

Für die Gestaltung eines Bildes ist es jedoch erforderlich, daß sich der Maler aus vielen z.T. widersprüchlichen Informationen eben „ein Bild gemacht hat". (Dieser Ausdruck gilt ja noch heute in anderen Informationsbereichen.) Da er sich nicht damit begnügen darf, Einzelheiten abzubilden, sondern sich für Zusammenhänge entscheiden muß, stellt er das Bild über das bloße Abbild. Er bedient sich nicht nur der Sprache der Gegenstände (Inhalt des Bildes), sondern ebenso der Form und der Farbe, in die er die Erscheinung (Gegenstände) übersetzen muß, um sich bildnerisch werkgerecht zu äußern. Die Sprache der Form und der Farbe wird vom ungeschulten Betrachter zumeist nur unterbewußt gelesen, aber sie bewirkt den Charakter des Bildes.

Während das Abbild einen Ausschnitt der Umwelt wiedergibt, der auch größer oder kleiner gefaßt sein könnte, müssen im Bilde die Gegensatzwerte in Form und Farbe einander so bedingen, daß es nicht über seinen Rahmen hinaus fortgesetzt werden kann. So wird im Bilde der Ausschnitt in eine mikrokosmische Einheit verwandelt die dem Makrokosmos vergleichbar ist, und die als selbständiger optischer Organismus existieren kann. Daher besteht für den Menschen der Wert eines Bildes weniger im Dargestellten, sondern darin, die Summe der einzelnen Gegenstände zu einem Guß zu verschmelzen und damit auch im Betrachter das Gefühl der inneren Einheit zu wekken.

Auf dieser Ebene klärt das Bild auch seinen Inhalt neu in verdichteter Form. Es strahlt typenbildende Kraft aus und wird Weltbild. Die Menschen sehen danach die Welt so, wie sie im Bilde gestaltet wurde.

Die zeitgemäße „Kunst" scheint sich dagegen die Aufgabe gestellt zu haben, um einer absoluten Freiheit und des permanenten Fortschritts Willen jede Art von Regeln, Gesetzen und Maßstäben über den Haufen zu werfen. „Nichts ist wahr und alles ist erlaubt", könnte über den Pforten unserer renommierten Kunstausstellungen stehen. Ihre Exponate sind deswegen Kunst, weil sie im traditionellen Sinne nicht als solche verstanden werden können. Das Fragment feiert Triumpfe über die bildnerische Ganzheit, und das nur Provozierende, das Schockierende, das Unmenschliche und Aggressive ist an die Stelle der einst schwer erkämpften ästhetischen Harmonie getreten.

Seitdem Duchamp den Flaschentrockner auf einen Galeriesockel stellte, wird alles automatisch Poesie, was ein titulierter Veranstalter auf ein Postament stellt: verrostete Kanonenöfen, vergammelte Badewannen, Fettecken, willkürlich zusammengelöteter Schrott und auch Künstlerexkremente in Dosen. Man kann sich auch selbst als Kunst ausstellen. Es genügt schon, irgendeine ausgefallene Aktion zu planen, ohne sie auszuführen (conceptional art), um zu den Arrivierten im Reich der modernen Kunst zu gehören. Nachdem nun auch noch die Antikunst im Zuge der Erweiterung des Kunstbegriffes in ihrem Schoße Zuflucht fand, erhebt sich die Frage:

Was ist eigentlich nicht Kunst? Und da muß ich in Übereinstimmung mit meinem Kollegen antworten: „Meine Bilder!" Denn nur das Gesetz macht frei (Goethe).

Ob sich der ad absurdum geführte Kunstbegriff noch einmal regenerieren wird, sei dahingestellt. Meine Betrachtungen widme ich dem Tafelbild. Ich tue dies als Bildmaler und beschränke mich auf den Erfahrungsextrakt, der mein Bildverständnis prägte. Ich beabsichtige nicht, meine „Kunstrichtung" zu verbreiten, sondern möchte auf die überzeitliche Bedeutung des neuerdings immer wieder für tot erklärten Tafelbildes hinweisen.

Dies schrieb ich vor Jahren. Damals konnte ich den Text noch mit etwas Galgenhumor würzen. Heute ist mir auch diese Form des Humors vergangen. Der Satz: „An das Nichtmalenkönnen werden immer höhere Anforderungen gestellt", beherrscht die offizielle Kunstszene. Das Primitive, das Ordinäre und das Leere dominieren. Der Kunstbetrieb hat sich verselbständigt und beschränkt sich auf eine winzige Schickeria, die aber eine erstaunliche Macht ausübt, weil jeder, dem an einem gesellschaftlichen Ansehen gelegen ist, zu ihr gehören möchte. Gelingt ihm die Mitgliedschaft, darf er „des Kaisers neue Kleider" tragen.

Augenblicklich hat man es mal wieder mit sogenannten „Installationen" zu tun. Irgendwelche sinnlosen Gestelle, Gesteinsbrocken, Eisenteile und Tapeten, die noch an Bilder erinnern sollen, füllen - meist spärlich - die Aus-



„Haus zwischen Olivenbäumen" (Mallorca), 1982 Tusche, 30 x 50 cm

stellungsräume. Nur ganz wenige Menschen gucken sich das an. Die Eröffnung der Ausstellung bleibt das einzige Ereignis. Man geht lediglich hin, um gesehen zu werden. In den unvermeidlichen „Einführungsreden" offenbaren die Kulturfunktionäre ihre Verliebtheit in geschraubte und unverständliche Formulierungen. Dabei spielen Fremdwörter, die kaum ein Mensch kennt, eine maßgebliche Rolle. („... damit ich nicht mit saurem Schweiß zu sagen brauche, was ich nicht weiß.") Dann hat sich das Ganze erst einmal. Immerhin kam es dabei wieder einmal zu einem Höhepunkt des Kultes mit dem Nichts. Das läuft nun schon an die vierzig Jahre. Einige namhafte Schriftsteller haben diese Entwicklung treffend entlarvt und geistreich persifliert. Aber es hat sich nichts geändert, obwohl der ganze modemistische Kunstbetrieb längst der Lächerlichkeit preisgegeben sein müßte.

Vor etwa 15 Jahren fand in Stockholm eine Ausstellung von Affenmalerei statt. Der Verfasser, ein Schimpanse namens Kongo, wurde zunächst nicht genannt. Die Kritiker lobten einhellig die delikate Farbigkeit der Bilder und die gesunde Vitalität des Malers. Nachdem sich herausgestellt hatte, daß es sich dabei um einen Affen handelte, wurde die ganze Angelegenheit schnellstens unter den Teppich gekehrt. Es konnte nicht sein, was nicht sein durfte.

Nun, 15 Jahre später, hat ein Hamburger Fernsehteam den Gag wieder aufgefrischt. Es präsentierte auf einer Ver-nissage Werke von „Neuen Wilden aus der dritten Welt". Dieser Titel war auf den herrschenden Zeitgeist geradezu maßgeschneidert. „Neue Wilde" sind sowieso „in", und wenn sie darüber hinaus noch aus der dritten Welt stammen, kann nur begeisterte Zustimmung erfolgen. So geschah es dann auch, und der stellvertretende Leiter der Hamburger Kunsthalle forderte Respekt vor den Künstlern. Schade, daß ich die betretenen Gesichter der „Experten" nicht sehen konnte, als sich herausstellte, daß es sich bei den Künstlern abermals um Schimpansen handelte. Aber vielleicht waren die Experten gar nicht so betreten, weil sie in dem Vorfall einen erfreulichen Schritt im „Zurück zur Natur" sahen.

Ist es eigentlich noch der Mühe wert, binsenweisheitlich auf den geistigen Unterschied zwischen dem Menschen und den Affen hinzuweisen?

Der Affe kann eine Banane fressen, aber er kann sie nicht darstellen, weil ihm der Begriff „Banane" nicht bewußt ist. Er kann sich aber, wenn er dazu angehalten wird, in



Weg am Meer" (La Palma). 1982 Tusche, 24 x 31 cm

seiner seelisch-charakterlichen Struktur handschriftlich äußern. Er äußert sich in diesem Falle als Geschöpf und nicht als Schöpfer. Der Mensch aber kann (wenn er es kann) eine Banane darstellen; und das sollte er auch tun, wenn er sich vom Affen unterscheiden will. Wenn nicht, muß er eben auch abstrakt malen und sich nur als Geschöpf äußern. (Hoffentlich werden die humorvollen Fernsehleute nun nicht auf Betreiben des Kunsthandels und der dazugehörigen Kunstmafia entlassen!)

Da nun das Nichtmalenkönnen auf viele - allzu viele -zutrifft, werden wir bereits heute von einer Flut an „Kunst"-Produkten überschwemmt, die kaum Verwendung findet. Da diese Produkte wegen ihrer riesigen Formate von vornherein für die Museen hergestellt werden, aber dort nur günstigenfalls für kurze Zeit gezeigt werden können, vergrößert sich ständig die Müllhalde der Geschichte. Außerdem schwillt die Zahl der „Künstler" ständig an, so daß es schon keine Ateliers mehr gibt, in denen die großformatigen Zeitgeistprodukte hergestellt werden können.

Die Entwicklung, die zu diesem Ergebnis führte, erstreckt sich über knapp hundert Jahre. Um die Jahrhundertwende hatte es die geistige Führungselite des Abendlandes wieder einmal gründlich satt, sich länger den drei bekannten Komponenten, Schicksal, Schuld und Tod zu unterwerfen. Diesen Überdruß hatte es in der Geschichte der Menschheit schon öfter gegeben. So hatten beispielsweise die Sophisten den Menschen als das Maß aller Dinge angesehen. Der Mensch der Renaissance entwickelte ähnliche Ansprüche, blieb dabei aber noch in das Herrschaftssystem des Adels und der Geistlichkeit eingebettet. Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts hatten aber naturwissenschaftlicher, technischer und medizinischer Fortschritt im Menschen die Illussion geweckt, sich in Zukunft selbst an die Stelle Gottes zu setzen. Die Schöpfung wurde als das entscheidende Hindernis zur Beherrschung der Erde durch den Menschen angesehen. So äußerte dann Picasso: „Ganz offensichtlich muß es die Natur geben, damit wir uns an ihr vergehen können". (Was wir dann auch ausgiebig taten.) (Sein Freund Jarry ging hinsichtlich der Zerstörung der Natur noch einen Schritt weiter und forderte: „Wir haben erst dann alles zerstört, wenn wir auch die Trümmer zerschlagen haben". (In der bildenden Kunst haben wir das heute geschafft.)

Wenn ich die großartige malerische Begabung Picassos in seinen Frühwerken bestaune, muß ich ihn in seinen späteren Werken (ausgenommen die Familienbilder) als gefallenen Engel sehen, der die Rolle des Mephisto außerordentlich erfolgreich spielt - und dies nicht nur auf dem Gebiet der Malerei.

Picasso wird heute ein künstlerisches Testament unterstellt. (Ob das stimmt, oder ob es ihm in den Mund gelegt wurde, mag dahingestellt bleiben. Man behauptet auch vom letzten König von Sachsen, er hätte gesagt, als man ihm die Abdankung nahelegte: „Nu macht eiern Dreck alleene". (Er hat es nicht gesagt, aber er hätte es sagen können.)

Dieses Testament lautet:

„Seit die Kunst nicht mehr die Nahrung der Besten ist, kann der Künstler sein Talent für alle Wandlungen und Launen seiner Phantasie verwenden. Alle Wege stehen der intellektuellen Scharlatanerie offen. Das Volk findet in der Kunst weder Trost noch Erhebung. Aber die Raffinierten, die Reichen, die Nichtstuer und Effekthascher suchen in ihr Seltsamkeit, Originalität, Verstiegenheit und Anstößigkeit. Ich habe die Kritiker mit den zahllosen Scherzen zufriedengestellt, die mir einfielen, und die sie um so mehr bewunderten, je weniger sie ihnen verständlich waren. Ich bin heute nicht nur berühmt, sondern auch reich. Wenn ich aber allein mit mir bin, kann ich mich nicht als Künstler betrachten im großen Sinne des Wortes. Große Maler waren Giotto, Tizian, Rembrandt und Goya. Ich bin nur ein Clown, der seine Zeit verstanden und alles herausgeholt hat aus der Dummheit, der Lüsternheit und Eitelkeit seiner Zeitgenossen."

Die Besten gibt es nicht mehr. Die sind wegsozialisiert. Der Beste ist heute dem Schlechten gleichgestellt. Nun hat Picasso seinem Unmut gegenüber der Schöpfung dadurch Ausdruck verliehen, daß er sie zersägte und neu zusammensetzte; er übertrieb und verzeichnete sie; er setzte an die Stelle der Schönheit das Häßliche und verzerrte die wirklichen Gegebenheiten bis zur Unkenntlichkeit. Nur im häuslichen Bereich blieb er normal und schuf hier Bilder, die ihm die Bewunderung einbrachten: Er kann doch malen! (also muß doch hinter all den unverständlichen Mißgestaltungen ein tieferer Sinn stecken.)



„Das spanische Haus" (Mallorca), 1983 Tusche, 30 x 50 cm

Seine Übergriffe machten indes bald Schule. Sie wurden als Befreiung von jeglicher Bindung aufgefaßt und gefeiert. Alle nunmehr „berühmten" Kunstrichtungen wie der Kubismus, der Expressionismus, der Konstruktivismus, das „lyrische Farbchaos" eines Kandinsky und die ganze abstrakte Malerei sind letztlich auf ihn zurückzuführen. Im ökologischen Bereich wurden der Zerstörung der Natur bald Grenzen gesetzt. Im Bereich der bildenden Kunst jedoch wird die Natur überhaupt nicht mehr beachtet. Der moderne Künstler ist nur noch berauscht von einer Freiheit, die keine Bindungen und Maßstäbe mehr kennt.

Freiheit und Freiheit sind aber nicht dasselbe. Bis heute ist der Begriff der Freiheit tabu. Er repräsentiert das leuchtende Fanal des Erstrebenswerten. Nun sind aber im Namen der Freiheit auch unzählige Schandtaten und Verbrechen verübt worden. Das war dann eben die falsche Freiheit. Aha, es gibt also auch eine falsche Freiheit!

Die beliebteste Art der Freiheit ist die, wo der Mensch machen kann, was er will. (Keine Macht für niemanden!)

Aber die führt zur Anarchie und zum Kampf aller gegen alle. Denn: Wat dem een sien Uhl, is dem annern sien Nachtigall.

Außerdem landet der Anarchist sehr schnell im Gefängnis seiner ausgeprägten Eigenliebe. Er läßt nur gelten, was ihm liegt und will auch das Leben auf diese Beschränktheit reduzieren. (In dieser Hinsicht neigen wir alle mehr oder weniger zur Anarchie.) Er schließt sich hermetisch gegenüber Einflüssen von außen ab, wodurch er seinen Horizont nie erweitem kann und schon früh zwangsläufig im Altersstarrsinn endet. Nun gibt es auch freiwillige Bindungen an ein vom Menschen erdachtes Ideal, das sich in einem System, einer Ideologie, einem Prinzip, aber auch in einer religiösen Autorität äußern kann. Robesspierre band sich an das Ideal der Tugend und der Vernunft, wodurch die Guillotine ihre eigentliche Tätigkeit entfaltete. Lenin sah die Befreiung und Erlösung der Menschheit in der sozialistischen Weltrevolution (... und wenn Dreiviertel der Menschheit zugrundegehen, die Hauptsache, das letzte Viertel wird sozialistisch.) Mit welchen Mitteln Stalin diese „Befreiung" fortsetzte, ist bekannt. Über die Inquisition wollen wir schweigen. Sie liegt lange Zeit zurück. Blieben die Opfer des nationalsozialistischen „Freiheitskampfes", aber die sind mit denen Stalins identisch, wenn auch unter etwas anderen Vorzeichen. Bei all diesen „Regelungen" ging es letzten Endes darum, die Gegner der betreffenden Freiheit zu liquidieren. (So wird es auch in Zukunft sein).

Um nun in diesem Zusammenhang wieder auf die bildende Kunst zu sprechen zu kommen, halte ich einen Vergleich zwischen der Malerei der Bundesrepublik und der ehemaligen DDR für angebracht. Bundesrepublik und DDR waren im West-Ost Konflikt Frontstaaten. Daher mußten in ihren Bereichen die Gegensätze in der bildenden Kunst besonders ausgeprägt zutagetreten. In der DDR wurden die Künstler streng in das politische System eingebunden. Es waren nur positive Veranschaulichungen erlaubt. So wurden denn ausschließlich die äußerst arbeitsfreudigen DDR-Bürger dargestellt. (Können einem schon die vielen Heiligen vergangener Epochen auf den Geist gehen, wieviel mehr erst immer wieder nur Arbeiter.) Aber Arbeit ist nun einmal Arbeit. Im Idealfall besteht sie zur einen Hälfte aus Lust und zur anderen Hälfte aus Mühe und Anstrengung. Es gibt keine Arbeit, die nur Freude macht. Da irrt auch Marx, wenn er von der nichtentfrem-deten Arbeit spricht.

Nun soll dabei nicht übersehen werden, daß die DDR-Maler wesentlich mehr zeichnerisches und malerisches Können entfalteten als die westlichen Kollegen. Dieser ideologischen Zwangsjacke gegenüber mußte der Westen eine uneingeschränkte Freiheit demonstrieren. So litt dann die westliche Kunst bald unter dem Diktat der Freiheit, und jeder auf die Leinwand geschleuderte Tobsuchtsanfall wurde als Rechtfertigung mit großem Beifall begrüßt. Nach der Wende hat leider diese westliche Freiheit schnell auf den Osten übergegriffen. Man will ja auch „in" sein. Die edle Sammlung des Dresdener Albertinum beherbergt heute schon drei Säle westlicher Freiheitskunst, die überhaupt nicht dem Qualitätsniveau dieses Museums entsprechen. Die Besucher durcheilen diese Säle mit halbgeschlossenen Augen. Für sie sind das einfach Fremdkörper.

Da nun weder die absolute Freiheit, noch die freiwillige Bindung an ein vom Menschen erdachtes Primat lebensfähige Umstände versprechen, habe ich mich freiwillig für die Bindung an die Schöpfung entschlossen, denn die Menschheit liebt Irrlehren. (Sein, Schöpfung, Wirklichkeit, Natur und Gegenständlichkeit nahem sich dabei so sehr an, daß sie gelegentlich miteinander verschmelzen.)

Nach der Aufklärung ist Gott nicht mehr als menschliche Person denkbar, wie ihn Michelangelo dargestellt hat. Niemand hat ihn je so gesehen. Deshalb ist er für mich nur in seiner Schöpfung gegenwärtig. Nach dem langen Naturstudium, das ich hinter mich gebracht habe, steht für mich eindeutig fest, daß die Natur immer besser ist als der Mensch. Ein Verschmelzen mit dem Sein kann also für den Menschen nur Vorteile bringen. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Schon unsere Mystiker des Mittelalters (Meister Ekkehardt), aber auch die Zenbuddhisten huldigten ihr.

Hier kann ich auf einen kurzen Abriß aus der Kunstgeschichte nicht verzichten. Im Gegensatz zu den Kunsthistorikern werde ich mich nicht auf die stilistischen Unterschiede der Malerei konzentrieren, sondern auf die Gemeinsamkeiten. Darüber hinaus will ich über die wenigen, aber entscheidenden Bewußtseinsmutationen berichten, wodurch die Menschen zu neuen bildnerischen Lösungen gelangten. Trotzdem bleibt ein Gemeinsames: Die Auseinandersetzung mit der Erscheinung.

Wir müssen annehmen, daß sich die Menschheit noch vor 30 000 Jahren in einem dumpfen Bewußtseinszustand befand. Sie sahen vielleicht ebenso wie wir, aber sie wußten nicht, worum es sich handelte. Da kam die erste Bewußtseinsmutation. (Aus der Biologie ist bekannt, daß die Mutation eine unvorhergesehene und sprunghafte Veränderung des Erbgutes bedeutet. Bei der Bewußtseinsmutation handelt es sich darum, daß im Menschen plötzlich das Bedürfnis entsteht, sich Dinge bewußt zu machen, die er bisher noch nicht kannte. Solche Veränderungen müssen aus besonderen kosmischen Konstellationen herrühren, die dem menschlichen Verstand unzugänglich sind und zu den latenten Entwicklungsgesetzen der Schöpfung gehören.)

Sie bewirkte, daß ein Höhlenbewohner das dringende Bedürfnis in sich spürte, sich ein Bild vom Mammut zu machen. Mit diesem Bedürfnis müssen ihm aber gleichzeitig die technischen Voraussetzungen für die Verwirklichung dieser Darstellung eingegeben worden sein. Dabei handelt es sich um das Farbpigment wie z.B. Holzkohle und Ocker und den dazugehörigen Binder, durch den die Pigmente bis heute an der Höhlenwand haften blieben. Man nimmt an, daß der „Maler" hierfür Fett, Eiweiß und Blut verwandte. Nachdem das Mammut auf diese Weise sichtbar gemacht war, konnte es in der Wirklichkeit erkannt, bekämpft und schließlich erlegt werden. Das bedeutete eine wesentliche Verbesserung der menschlichen Überlebenschancen.

Daneben wurden nun im weiteren Verlauf der Entwicklung eine Reihe anderer Tiere aufgezeichnet, die sowohl als Jagdbeute als auch als Haustiere eine Rolle spielten. Daneben findet man Andeutungen von menschlichen Figuren. Sie treten uns aber nur als Funktionszeichen entgegen: Im Sprung, im Kampf, bei der Arbeit wie z.B. beim Honigsammeln.

Der Mensch hatte sich als Einzelwesen noch nicht selbst erkannt, wohl aber die wichtigsten Tiere seiner Umgebung. Die optische Selbsterkenntnis blieb einer späteren Bewußtseinsmutation überlassen.

Als ihm zum ersten male bewußt wurde, daß das Spiegelbild im Wasser er selbst war, muß diese Tatsache einen gewaltigen Schock in ihm ausgelöst haben. Während er davor noch unbewußt in die kosmischen Funktionen eingebettet war, mußte er jetzt feststellen: Hier bin ich, und dort ist die Welt. Damit war er aus dem Paradies vertrieben und auf sich allein gestellt. Von nun an trachtete er (bis heute) danach, dieses Paradies in irgendeiner Form zurückzugewinnen. Er glaubte, dies müsse ihm am ehesten dadurch gelingen, daß er die Welt in den Griff bekäme.

Da nun der Mensch einerseits geistige Ansprüche an das Leben stellt, andererseits aber seiner körperlichen Materie gerecht werden muß, wird bei ihm das Trachten nach materiellen Erfolgen im Vordergrund stehen. Lediglich in der Kunst wurde die geistige Vervollkommnung angestrebt. Sehr deutlich wird dieses Streben in der Malerei der Gotik. Das irdische Leben des Menschen diente in erster Linie der Vorbereitung auf das Jenseits.



„Bananenplantage" (La Palma), 1982 Tusche, 24 x 31 cm

Das Weltbild von damals war, verglichen mit dem von heute, sehr einfach. Die Erde bestand aus einer Scheibe. Darüber wölbte sich in Form einer Glocke der Himmel, wo Gott wohnte und an dem die Sterne befestigt waren. Die Beziehungen zwischen Gott und den Menschen waren durch eine Hierarchie von Engeln und Heiligen gewährleistet, an deren Spitze Gottes Sohn stand. Dieses System gewährte den Menschen eine seelische Geborgenheit und damit eine Art Vorparadies. Das richtige Paradies mußte allerdings ins Jenseits verlegt werden. Dorthin kam nur der, der sich im Vorparadies entsprechend bewährt hatte.

Um die Wende des 15. Jahrhunderts wirkte sich eine erneute Bewußtseinsmutation aus. Diesmal bei Astronomen und Malern gleichzeitig: Kopernikus, Kepler, Galilei und Albrecht Altdorfer.

Die Erde war auf einmal keine Scheibe mehr. Sie war zur Kugel geworden, schwebte im Weltall und drehte sich um die Sonne. Damit wich das einfache Himmelsgewölbe der Unendlichkeit, und das bisherige Weltbild entglitt dem Maler. Er mußte nun eine wesentlich größer gewordene Welt erneut in den Griff kriegen. Dabei spielten zwar die Heiligen noch eine gewisse Rolle, aber mehr und mehr beherrschten profane Themen wie Landschaft und Stilleben die bildnerische Szene. Selbst für die Madonna saßen nun die Ehefrauen der Maler oder ihre Geliebten Modell.

Auf diesem Wege, der bis ins 19. Jahrhundert beschritten wurde, entstanden die großen Meisterleistungen des Abendlandes. Da sie als bekannt vorausgesetzt werden können, begnüge ich mich mit dem Hinweis auf einige Namen: Leonardo da Vinci, Michelangelo, Raffael, Dürer, Rembrandt, Vermeer van Delft, Tizian, Velasquez und viele andere.)

Die ganze Vielfalt der Erscheinungswelt wurde dem Pinsel unterworfen. Handwerkliches Können und seelische Gestaltungskraft gingen Hand in Hand und zeugen auch heute noch vom geistigen Volumen des Abendlandes.

Aber schließlich war alles Sichtbare einmal gemalt und in Bildern wiedergegeben worden. Zur gleichen Zeit verschwanden auch die letzten weißen Flecken auf den Landkarten. Die Epochen der quantitativen Entdeckungen auf der Erde waren beendet. Aber der Elan des abendländischen Geistes war noch nicht erloschen. In Bildern wie Leibls „Frauen in der Kirche" erfuhr die darstellende Kunst noch einmal Höhepunkte, die auf Möglichkeiten einer gesteigerten Bilddichte hoffen ließen. Andererseits hatte in der Malerei eine oberflächliche Verliebtheit in die eigene Virtuosität Platz gegriffen. Kalte und „geleckte" Darstellungen waren in Mode gekommen und bestimmten den Stil der Künstler im Pariser „Salon", wo die Impressionisten vergebens um ihre Zulassung kämpften.



„Haus an der Wegbiegung" (La Palma), 1982 Tusche, 24 x 31 cm

Aber gerade sie hatten auf Grund einer erneuten Bewußtseinsmutation anhand einer neuen Farbigkeit des Lichtes entscheidende Hilfsmittel für bildnerische Zusammenhänge bereitgestellt. Das Licht verteilt sich gleichmäßig auf die Erscheinung (es wirkt sogar in die Schatten hinein), und mildert die Trennungslinien zwischen den Gegenständen. Dadurch wird nicht nur die Einheit des Bildes gefördert, sondern auch die Entwicklung eigener Farben aus der Tiefe des Gemütes.

Beim späten Monet lösten sich die Formen zugunsten eines individuellen Farbrausches auf. Dieser Entwicklung begegnete Cezanne stabilisierend mit einer gefestigten Komposition, und Leibl fügte dem eine minuziöse Stofflichkeit hinzu, wie wir sie bisher nur aus den Stilleben der Alten Meister kannten. Leider verspielte hier das Abendland seine große, geistige Chance. Die Kunst zersplitterte sich in ihre Bestandteile und landete schließlich in einem subjektiven Narzißmus, der keine allgemeingültige Bedeutung mehr besaß und auch keinerlei Werte hervorbrachte.

Damit war der geistige Untergang des Abendlandes besiegelt.

Parallel dazu vollzog sich der geistige Untergang des asiatischen Kulturkreises. Das Abendland und Asien waren die beiden letzten Kulturkreise auf dieser Erde. Es lohnt sich, in diesem Zusammenhang den Katalog einer Ausstellung chinesischer Malerei aufzuschlagen. Schon einige Bildtitel (etwa 1000 n.Chr.) stehen im völligen Gegensatz zur heutigen Betriebsamkeitshektik. „Im Schatten hoher Bäume", „Der Duft des Frühlings", „Reise auf dem Fluß", „In Erwartung der Gäste", „Der Wind flüstert im Gezweig der Kiefern" u.a. Dabei weiß unser Industriemanager gar nicht mehr, wie gerne er sich im Schatten hoher Bäume auf sich selbst besinnen würde. Wenn ich mich in ein chinesisches Landschaftsbild versenke, werde ich still und möchte nichts sagen. Das Allüberall des Tao umfängt mich, ein Hauch von Ewigkeit berührt mich. Obwohl ich klein und nichtig im Konzert einer kosmischen Sinfonie dastehe, bin ich doch zugleich auch das Ganze und kein verlorenes Einzelwesen mehr.

„Die Tuschmalerei ist Materie, aber sie schwingt sich in die Welt des Geistes", äußerte ein chinesischer Maler. So eröffnet das Bild einen schmalen Zugang zur Unsterblichkeit.

Nun besitzt die Tusche, die ja auf die Farbe verzichtet, als Materie schon starke geistige Eigenschaften, während die Farbe, besonders die Ölfarbe eine zähe Materie verkörpert und schwerer zu bewegen ist. Die Tusche streicht sich leichter und schneller hin. Die Aquarellfarbe ist ihr ähnlich.

Wenn wir die Möglichkeit einer Weltkultur ins Auge fassen, müssen wir an eine geistige Verschmelzung dieser letzten beiden Kulturkreise glauben."

Dabei gilt es, Grundsätzliches zu klären:

Der Europäer macht einen prinzipiellen Unterschied zwischen Geist und Materie. Für den Asiaten besteht hier ein gradueller, d.h.: Der gröbste Geist ist für den Asiaten Materie und die feinste Materie ist für ihn Geist. Dazwischen liegen für ihn unendlich viele Abstufungen der beiden Pole.

Kein Gegenstand der Wirklichkeit ist ohne Licht sichtbar. Das Licht aber ist ein kosmisches Element der geistigen Veredlung. Die Frage ist nur, welcher Maler empfindet diese Veredlung, und wer kann sie technisch verwirklichen? Es geht dabei um Farbmischungen, die in ihrer Differenzierung weder individuell veranlagt sind, noch mit Hilfe eines Rezeptes erlernt werden können. Der Maler muß sich selbst durch Übung und Anstrengung vergeistigen und die Trägheit seiner Materie Fleisch überwinden. Der andere Satz eines chinesischen Malers könnte die abendländische Bildkunst befruchten: „Wer Bambus malen will, muß vorher zum Bambus werden." Diese Forderung gilt natürlich nicht nur für den Bambus, sondern für alle Vorkommnisse auf dieser Erde. Der Maler malt nicht mehr die Erscheinung ab. Er steckt in ihr drin und beseelt sie durch sein eigenes Wesen. Dadurch unterscheidet sich das gemalte Bild von der Fotografie, die nur durch einen mechanischen Vorgang zustandekommt.

Wer da sagt, ein Baum in der Natur sei viel schöner als der vom Menschen gemalte, hat wohl noch nie einen gut gemalten Baum gesehen, oder er hat ihn, geprägt von einem zeitbedingten Vorurteil, einfach nicht beachtet. Der Anspruch des Malers besteht ja gerade darin, sich am Meister Natur zu messen, dessen Vollkommenheit anzustreben, um auf diese Weise irgendwann einmal „wie Gott" zu werden. Dagegen bleiben doch die abstrakten, narzisti-schen Scheingefechte mit der eigenen Person bedeutungslos.

Diese Erkenntnisse fehlen dem heutigen Künstler allemal. Er will sie auch gar nicht wissen. Er müßte wieder Anstrengungen und Mühen auf sich nehmen, und der Erfolg wäre ungewiß. Heute geht es in erster Linie darum, schnell durch irgend etwas Absurdes aufzufallen, um an das große Geld heranzukommen. Dieser primitive Materialismus entbehrt jeglicher Menschenwürde. Aber heute wird eben Menschenwürde mit finanziellem Reichtum gleichgesetzt.

Die chinesische Kunst ging unter Mao den Weg des sozialistischen Realismus. „Arbeite und lache", hieß die Devise, „und halte die Maschinenpistole bereit gegen den Klassenfeind". Inzwischen ist es still um diese Malerei geworden. Bahnt sich ein Gesinnungswandel an?

„Der abstrakte Maler spielt Schach gegen sich selbst", so formulierte Carl Hofer.

Da nicht mehr der Gegenstand, sondern der Maler selbst sein Gegner ist, kann er immer gewinnen, wenn er den Zeitpunkt für gekommen hält. Das ist sehr bequem; man braucht sich nur gehen zu lassen. Eines aber muß ein solcher Maler vermeiden: Er darf sich während des Malvorganges nie fragen, was soll das sein. So führt der abstrakte Maler zunächst einen Eiertanz um die eigene Person auf, um schließlich dadurch einen Abschluß zu finden, daß er alle ihm liegenden und von ihm bevorzugten Farben und Formen einsetzt. Das Ergebnis läuft auf eine bloße Selbstdarstellung seiner charakterlichen und seelischen Konstellation hinaus. Er vermeidet die Einstellung zur Wirklichkeit, macht sich kein Bild von der Welt und schafft keine allgemein gültigen Werte.

Das mag für psychologische Betrachtungen vorübergehend ganz interessant gewesen sein, aber spätestens nach der zweiten Welle der Abstrakten hätte man es dabei bewenden lassen können.

Aber da man glaubte „neue Wege" gefunden zu haben, auf denen sich nun endlich „die Kunst von der Kunst befreite" (welch schicksalsträchtige Formulierung!), wurde dieser Prozeß immer wieder in einer „Documenta" von „kenntnisreichen" Juroren gefeiert. Ein Ende ist nicht abzusehen. Unter großem staatlichen Finanzaufwand ist eine weitere Documenta geplant. Sie wird wieder unter der Devise stehen: Der Freiheit eine Gasse! (Arme Freiheit) Hier läuft ein Show-business mit „geistigen" Sensationen ab und lockt ein entsprechendes Publikum an. Oft mußten Exponate, deren Abtransport zu teuer kam, nach der Ausstellung an Ort und Stelle verschrottet werden. Dennoch bedeutet eine Documenta den unaufhaltsamen Siegeszug der Erklärer der unverständlichen Objekte. (Eine Honigpumpe - wer braucht diesen Unsinn?) Aber diese Erklärer sind längst nicht mehr die Kunsthistoriker von einst, sondern Kunstpäpste, die bestimmen, was Kunst zu sein hat. Die armen Künstler, die vom Ruhm und dem großen Geld träumen, wollen es ihnen so recht wie nur irgend möglich machen. Diese Päpste haben große Macht, und sie werden sie so leicht nicht abgeben. Abgesehen davon, sitzt der internationale Kunsthandel auf riesigen



„Haus zwischen Felsen" (La Palma), 1982 Tusche, 24 x 31 cm

Lagerbeständen modernistischer Kunst, die er noch verkaufen muß. (Es gibt selbstverständlich auch noch eine Reihe seriöser Kunsthistoriker, die die Geschichte der Kunst gewissenhaft aufarbeiten und deren geistige Substanz der Nachwelt sichern. Aber sie blühen im Verborgenen.)

Neulich mußte ich mir wieder eine Ausstellung moderner Kunst ansehen. Dümmlicher und nichtiger geht es nicht mehr. Diese „Kunst" tritt auf der Stelle und pfeift aus dem letzten Loch. Besucher sind kaum noch zu verzeichnen. Oder erfüllt sich eine weitere Prognose Nietzsches für das Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, und der letzte Normale geht freiwillig in die Irrenanstalt? Was nun?

Es ist heute nicht auszuschließen, daß wir auf eine Weltkultur zusteuern. Wir besitzen eingehende Informationen über alle Kulturen unserer Erde und sind in der Lage, aus einem gewissen Abstand ihre Unterschiede, aber auch ihre Gemeinsamkeiten kennenzulernen und zu verarbeiten. In allen künstlerischen Spitzenleistungen wurde das Absolute aus nächster Nähe umkreist. Das Absolute ist unveränderlich und ewig. Je mehr Kunst vom jeweiligen Zeitgeist bestimmt war, um so schneller verging sie mit ihm. Heute leben wir im Zustand einer Weltunkultur; die scheint notwenig, um das Bedürfnis nach Kultur neu zu wecken. Kultur ist gekennzeichnet durch Zusammenfassung, Unkultur durch Zerfall. Der Virus des Zerfalls kann erhebliche, geistige Störungen hervorrufen, die der Betroffene nicht erkennt, weil seine Umgebung gleichermaßen befallen ist. Besonders gern bemächtigt sich dieser Virus der Autoritäten, um mit deren Hilfe seinen Einflußbereich schnell zu vergrößern. Er nähert sich ihnen im Gewand der Novität. Denn „das gewöhnliche Publikum", so Goethe, „liebt nur das Neue und an der ganzen Poesie und Kunst eben nichts als das Neue".

Nachdem der Ausflug in den abstrakten Narzißmus keinerlei Werte von Dauer hervorgebracht hat, müßte die Kunst nun wieder dort ansetzen, wo ihre unbestrittenen letzten großen Leistungen erbracht wurden. Also bei den „Drei Frauen in der Kirche" von Wilhelm Leibl. (Ich führe dieses Bild symbolisch an. Natürlich gibt es noch eine ganze Reihe ebenbürtiger Werke.) Das ist leider nicht möglich. Den entsprechenden Malern fehlt in unserer Gegenwart die Kraft, denn sie werden weder vom Zeitgeist noch vom Volk getragen. Das arme Publikum, aus dessen Sehnsucht diese Kraft kommen müßte, ist dadurch verunsichert, daß ihm jahrzehntelang suggeriert wurde, es verstehe nichts von Kunst, was schließlich dazu führte, daß es sich nun gezwungen sieht, alles das, was es nicht versteht, für Kunst zu halten. Nein, das wahre Kunstverständnis sei einer Geisteselite vorbehalten. Alles gut und schön! Aber diese Geisteselite wird heute von einer wohlstandsüberdrüssigen und sensationslüsternen Schikkeria gestellt, die von Kunst im schöpferischen Sinne rein gar nichts versteht. Ihre Mitglieder lauschen nur den hochgestochenen Ausführungen der Erklärer, beklatschen sie, und haben das Gefühl, höherer Weihen teilhaftig geworden zu sein. (Ich beobachtete einmal einen Angehörigen dieser Schickeria, wie er an einigen Spitzwegs vorübereilte, mit denen er nichts anfangen konnte, weil ja alles zu erkennen war.)

Es gibt im normalen Publikum noch eine große Anzahl der „ganz Eisernen", die überzeugt sind, daß sie der moderne Künstler nur auf den Arm nehmen will. Dem ist aber nicht so. Diese Künstler sind auch keine „lupenreinen Witzbolde", wie Kishon meint. Sie denken sich mit tierischem Ernst Sensationen aus, mit denen sie eines Tages als Genies gefeiert werden und warten nur darauf, rechtzeitig entdeckt zu werden. In einigen Fällen widerfährt ihnen sogar dieses „Glück" - rein zufällig.

Andere Betrachter sagen: Das kann meine Enkelin auch, und das werfen wir weg. Damit ist erwiesen, daß der Mensch im Kunstwerk etwas sehen will, was er nicht kann. Er sieht, trotz aller Sozialisierungsmaßnahmen, das Kunstwerk „elitär", und ist nicht damit einverstanden, daß ihm auf diesem Sektor etwas geboten wird, was jeder kann. Er will geistig weiterkommen und dafür soll ihm die Kunst Vorbild sein.

Der Maler von morgen - sofern es ihn geben wird - ist erst einmal auf sich allein gestellt. Er muß sich den Demütigungen derer unterwerfen, die mit Hilfe ihres Nichtmalenkönnens Karriere machen wollen. Wahrscheinlich muß das so sein. Gerade weil er das allgemeingültige Absolute anstreben soll, muß er wissen, daß er einsam ist und seinen Weg zunächst allein geht. Der Maler von morgen ist auch nicht mehr so begabt wie ein Raffael oder Canaletto, denen schwierige Passagen in ihren Bildern verhältnismäßig leicht von der Hand gingen. Mit großen Begabungen ist unsere Gegenwart nicht gesegnet, dafür aber mit einer Vielzahl derer, die glauben, es zu sein. Der Maler von morgen wird erst einmal sehr kleine Brötchen backen müssen und bescheiden im Schatten des aufwendigen offiziellen Kunstbetriebes verharren müssen. Großformatige Ansprüche, wie sie heute üblich sind, werden ihm versagt sein. Dafür weiß er, daß die alten Griechen in ihren Gymnasien die menschliche Einheit von Körper, Seele, Geist anstrebten, denn der Maler von morgen muß wieder eine umfassende Bildung besitzen. (Die Zeit der dummen Maler ist vorbei.) Diese Griechen pflegten zu idealisieren. Ursprünglich hieß es statt Seele und Geist, Gefühl und Verstand. Diese Begriffe treffen den Tatbestand wirklichkeitsnäher. Körper, Gefühl und Verstand liegen im Widerstreit um die jeweilige Herrschaft über den Menschen. Mal muß er den Ansprüchen des Körpers gerecht werden (Hunger, Durst, Kälte, Hitze, Müdigkeit u.a.), mal sind es die Gefühle (Euphorie, Niedergeschlagenheit), die sein Handeln bestimmen, und mal ist es der Verstand (sachliche Überlegungen), der nüchterne Entscheidungen fordert. So wird der Mensch hin- und hergerissen und bewegt sich sein Leben lang im Kreise, weil er kein Ziel anstreben kann.

Dem Körper sind die fünf Sinne eingeboren, durch die der Mensch die Stofflichkeit der Welt erfährt. Diese Stofflichkeit findet in den niederländischen Stilleben oder denen des Chardin, Kalf und anderen eine meisterhafte Wiedergabe. Alle gegenständlichen Vorkommnisse wie Glas, Zinn, Früchte, Porzellan, Stoffe und andere Wesenheiten sind sinnlich dem Betrachter zum Anfassen, Anbeißen, Riechen sichtbar nahegebracht. Notfalls kann er sogar die Stille hören. Das Gefühl wird durch die Farbe ausgedrückt. Man spricht vom Farb-„Gefühl". Die Farbe besitzt musikalischen Charakter (Farbtöne) und bringt im Bild eine Melodie zum Klingen.

Der Verstand kristallisiert die Form der Dinge und den kompositorischen Aufbau des Bildes.

Um nun einen umfassenden Bildzusammenhang herzustellen, muß der Maler eine Fähigkeit entwickeln, die ihm nicht ohne weiteres angeboren ist, und die er sich mühevoll erarbeiten muß. (Daher Goethe: Genie ist Arbeit). Er muß nämlich die um eine Vorherrschaft kämpfenden drei Komponenten Körper, Gefühl, Verstand mit dem Willen zusammenzwingen (er muß sich zusammennehmen) und ihnen eine Entwicklungsrichtung vorgeben, die auf das Absolute hinzielt.

Alle großen Maler haben das Absolute umkreist und dadurch die jeweiligen Zeitgeistabweichungen weitgehend überwunden. So lassen sich die „Venus von Urbino" (Tizian), die „Venus mit dem Spiegel" (Velasquez) z.B. durchaus mit der „Olympia" (Manet) und der „Odaliske" (Ingres) miteinander vergleichen, obwohl Jahrhunderte dazwischenliegen, weil hier der ganze Mensch im Bilde ist und nicht nur ein Teil seines Wesens. Der „Zerfall" in unserer Weltunkultur hat es nun mit sich gebracht, daß die Stofflichkeit in einem kalten, abweisenden Fotorealismus, das Gefühl im Farbchaos des „Informel", und der Verstand im Konstruktivismus ihren Niederschlag fanden.

Das Absolute wird in einer asiatischen Legende treffend angesprochen: Ein chinesischer Kaiser läßt seine Lieblingspferde an eine Palastwand malen. Er beruft zu diesem Zweck den besten Maler des Reiches, der seine Aufgabe zur Zufriedenheit des Kaisers und der Hofgesellschaft löst. Hundert Jahre danach bricht im Palast ein Feuer aus. Als die Flammen an der Wand, auf der die Pferde gemalt sind, emporzüngeln, galoppieren die Pferde ins Freie.

Das ist der Weg!

Er ist unendlich lang und weist auf eine bildnerische Tätigkeit von vielen Jahrtausenden hin. Noch nie ist das Absolute verwirklicht worden: Es wurde immer vom jeweils herrschenden Zeitgeist verwässert. Aber es ist als erstrebenswertes Ziel bestehen geblieben.

Ich könnte mit diesem Ausblick abschließen. Da mir aber ein Abschluß mit einer Utopie als Realist nicht liegt, kehre ich wieder in die Wirklichkeit zurück und versuche, die Chancen zu erörtern, die wenigstens die Möglichkeiten bieten, sich auf diesem Weg in Marsch zu setzen. Die Wirklichkeit ist und bleibt: conditio sine qua non. Nur durch die Einwirkung von außen werden im Menschen schöpferische Kräfte aufgerufen. Anderenfalls tanzt er um sich selbst wie um ein goldenes Kalb, denn seine Eigenliebe kennt kein Maß. Nur durch die Umstände wird er gefordert, seine angeborenen und beschränkten charakterlichen Zuständigkeiten zu erweitem und zu objektivieren.

Der Anblick irgendeines Motivs läßt ihn wie angewurzelt stehen bleiben. „Verweile Augenblick, du bist so schön!", könnte er mit Goethe sagen. Er zückt seinen Fotoapparat und ist dann maßlos enttäuscht, wenn auf dem Abzug gerade das nicht vorhanden ist, was ihn so beeindruckte. Das Foto ist auf Grund eines mechanischen Vorgangs entstanden. Die Linse des Fotoapparates kann aber weder denken noch empfinden. Das gemalte Bild dagegen interpretiert das Sein - ob dilettantisch oder genial - auf menschliche Weise.

Der Mensch erlebt anders, als die Fotografie darstellt. Sein Betroffensein durch einen Eindruck wirkt sich anders aus. Seine Aufmerksamkeit richtet sich auf einen bestimmten Kontrasthöhepunkt im Motiv, dem sich alle anderen Vorkommnisse mehr oder weniger unterordnen. (Die Fotografie betont alles gleichmäßig.) Dieser Kontrasthöhepunkt, der einem Zellkern vergleichbar ist, kann aus einer starken Helldunkelspannung bestehen, er kann besonders leuchtende Farben aufweisen, er kann besonders genau formuliert sein, während andere Bildstellen in einer genauen Ungenauigkeit zurücktreten. Im Gegensatz zur gewohnten Luftperspektive, die die Dinge von vom nach hinten ordnet, kommt dieser Kontrasthöhepunkt am nächsten auf uns zu, egal ob er sich bildmäßig im Vorder-, Mittel- oder Hintergrund befindet. Wir können daher von einer Wirkungsperspektive sprechen, die die alte Renaissanceperspektive ablöst. Je wirkungsvoller das bildnerische Ereignis, umso tiefer dringt es in das menschliche Gemüt.

Die Fotografie kennt auch keine menschenerlebte Farbigkeit. Das beginnt mit den starken Helligkeiten und den entsprechenden Dunkelheiten, die in der Fotografie zu weiß und zu schwarz erscheinen. In Wirklichkeit weisen sie aber die feinsten Farbdifferenzierungen auf. Nicht nur die hellen Stellen leuchten in einem dezenten Rosa, Violett, Zitronengelb oder kaltem Grün, auch im Schatten ist Licht und bedarf der Farbe, und die kann nur der Mensch erfühlen. Der Film kennt nur drei Farbpigmente, die nie auch nur annähernd der Vielfalt der Erscheinung gerecht werden können. Diese drei Farbpigmente bestehen aus Türkisblau, Zitronengelb und Purpurviolett, also aus Lufttönen wie sie im Sonnenspektrum vorkommen. (Eine Ergänzung durch einen Erdton wie Umbra, könnte die Farbfotografie erheblich bereichern.) Wäre der Maler auf diese Pigmente angewiesen, seine Bilder fielen ausgesprochen bunt aus. (Solche Bilder gibt es unter den Epigonen der Expressionisten.) Ein Berufsmaler „alter Schule" weiß natürlich genau um die Bedeutung einer umfangreichen Palette bescheid, mit der allein er der Erscheinung zu Leibe rücken kann.

Nun gibt es im „Faust" einen wunderschönen Satz, der auf das Wesen des Bildes zutrifft: „Wie alles sich zum Ganzen webt, und eins im ändern wirkt und lebt."

Der Mensch hat die Welt in einige tausend Begriffe (oder Namen) eingeteilt, die zusammen eine Summe, aber kein Bild ergeben. Erst der Zusammenhang unter diesen Begriffen ergibt das Bild. Um diesen Zusammenhang herzustellen, bedarf es der vermittelnden Zwischentöne. Diese vermittelnden Zwischentöne erfordern eine ungewöhnliche Sensibilität einerseits und die Kraft der Zusammenfassung andererseits. Dies nannte man früher die Kraft zur Verdichtung.

Trotz ihrer Unzulänglichkeiten kann die Fotografie bei der Bildgestaltung helfen. So haben denn eine ganze Reihe bedeutender Maler anhand der Fotografie gearbeitet. Dazu gehören erwiesenermaßen Toulouse-Lautrec, Ce-zanne, Courbet, Delacroix, Stuck, Munch, Kirchner und andere.

Wer die Fotografie zuhilfe nimmt, muß allerdings nicht nur jahrzehntelang vor der Natur gemalt, sondern auch danach immer wieder die Motive der Wirklichkeit eingehend studiert haben, um sein „Innenbild" lebendig zu erhalten.

Gelingt die Verwirklichung des Innenbildes, vermittelt der Maler einen Hauch von Ewigkeit, denn er entreißt den Augenblick der Vergänglichkeit und versöhnt dadurch mit der Tatsache des physischen Todes. Dieser Erfolg aber wird schließlich nur durch den Einsatz des „Eigenen" möglich, der die Erscheinung menschlich beseelt. Aber dieses „Eigene" darf nicht wie beim Narzisten zum Selbstzweck erhoben werden, sondern steht im Dienste der Wirklichkeit.

Einstein bedauert, daß wir nur zehn Prozent der im Gehirn veranlagten Möglichkeiten nutzen. Bei hundert Prozent wären wir „wie Gott". Wenn wir jetzt an die herausgaloppierenden Pferde aus der Wand des kaiserlichen Palastes denken, was könnte der Mensch alles erreichen! Statt dessen berauscht er sich heute an den absurden Ergüssen seiner narzistischen Eitelkeit, die kaum ein kurzes Strohfeuer abgeben. So personifiziert er nur Vergänglichkeit: Nach mir die Sintflut! Ich mußte, wenn ich malte, sehr oft an Luthers Ausspruch denken: „Wenn ich wüßte, daß morgen die Welt unterginge, ich pflanzte heute noch ein Apfelbäumchen".

Wie weit ich dabei gekommen bin, darüber werden spätere Instanzen urteilen. Hoffentlich gibt es sie dann noch!

Hochhuth sagt, der Mensch könne wohl ums Paradies kämpfen, aber nicht in ihm leben. Ein weiser Satz, denn der Kampf ums Paradies machte bisher den Sinn des menschlichen Lebens aus. Der Mensch kann nämlich der Wirklichkeit und dem damit verbundenen Schicksal nicht entrinnen, so sehr er auch von der endgültigen Erlösung träumt. Zudem verhält sich das Schicksal immer um eine Nummer härter als das menschliche Wunschdenken. So führt er diesen Kampf zumeist widerwillig. Er will es doch so bald wie möglich „geschafft" haben. Erreichte er jedoch dieses Scheinziel, überfiele ihn sofort die Langeweile, und er wäre gezwungen, den Kampf erneut aufzunehmen. So bleibt der Mensch im Idealfalle ein schöpferisches Geschöpf, das im Rahmen der Schöpfung schöpferisch tätig sein könnte.

Um aber wieder einmal den ehernen Gesetzen der Schöpfung zu entgehen, erklärt er heute die Kunst zum Freiraum an sich und glaubt damit wenigstens teilweise die endgültige Erlösung gefunden zu haben. Zu diesem Zweck muß er sich in einen Arbeiter, der wirklichkeitsnahen Zielen dient, und einen Freizeitmenschen teilen. Dieser halbe Freizeitmensch wacht eifersüchtig darüber, daß seinen „Freiheiten" nichts im Wege steht. Keine Ordnung, keine Gesetzmäßigkeit, keine Konzentration, keine Harmonie und kein Können dürfen seine subjektiven Ambitionen behindern.

Dann ist alles, was gemacht wird, Kunst. Sie ist keinem Maßstab und keinen Regeln unterworfen.

Das größte Hindernis für diese Art der Erlösung muß das klassische Tafelbild gewesen sein, denn es wird seit einiger Zeit von der Mehrzahl der Kunsttheoretiker pausenlos für tot erklärt, weil in ihm der Maler eine allgemeine Gültigkeit anstrebte, die für jedermann verständlich und verpflichtend war. Im absoluten Freiraum der Kunst wird das Gegenteil gefordert. Subjektives Sichgehenlassen wird zum Garanten der individuellen Freiheit. Erst wenn ein „Kunstwerk" von niemandem mehr verstanden wird, kann es als „frei" bezeichnet werden.

Kann eigentlich etwas Wesentliches dabei herauskommen, wenn man es sich so leicht macht? Ist das Tafelbild nicht doch die einzig legitime Äußerung für den Maler, der sich ein kontrollierbares Bild von der Welt macht? Er zeigt doch nur im Spiegel der Wirklichkeit, wer er ist. Alles andere ist Bluff! Es ist erstaunlich, wie lange schon dieser offizielle Bluff von einflußreichen Schichten der Gesellschaft umtanzt wird. Da müssen schwere Schädigungen des Gehirns durch einen umsichgreifenden Gedankenvirus vorliegen.

Der Anblick guter Bilder erleichterte mir immer das irdische Dasein. Das Bild stellt ein mikrokosmisches Gleichnis zum Makrokosmos dar und besteht aus kristallisierter Eindrucksmaterie.

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