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WERNER RIEGER

Nachwort: August 1995

Inzwischen sind drei Jahre vergangen. Die Entwicklung hat sich gemäß dem Gesetz der Fallgeschwindigkeit beschleunigt. Aus den Kunstschockern sind inzwischen geistlose Routinesensationen geworden. So stellten neulich Studenten der hiesigen Fachhochschule für Gestaltung eine lange Reihe von etwa hundert Stühlen auf den Bürgersteig vor ihrem Ausstellungspavillon als „Kunst" auf. Wenn das der übliche Denkanstoß sein sollte, könnte der „Konsument" nur antworten: „Ja, Stuhlgang."

Es besteht hier eine gewisse Ähnlichkeit zu Maos Kulturrevolution. Während allerdings diese Kulturrevolution von oben befohlen wurde und alles Vergangene radikal zerstören wollte (was zum Glück nicht gelang), wird bei uns eine neue „Kunst" vom Zeitgeist suggeriert, die zwar die alten Werte noch nicht völlig abschaffen will, sie aber als unvereinbar mit der „neuen Zeit" hinstellt. (Eine Fettecke von Beuys kann nun mal nicht mit Tizian verglichen werden.)

Die Zerstörung der alten Werte soll den Weg freimachen für die bessere Welt. Denn diese Werte seien ein Privileg der Reichen gewesen. Das stimmt heute zwar nur noch teilweise, was den Besitz der Kunstwerke betrifft, aber das Kunstverständnis ist nicht abhängig von der Gehaltsklasse, sondern von der Charakterverfassung. Die bessere Welt gibt es nicht. Auch die Kunst kann sie nicht schaffen. Sie kann lediglich „die denkbar schlechteste aller Welten" (Schopenhauer) erträglicher machen. Wir können nicht ewig dem verlorenen Paradies nachtrauern. Denn wir müssen endlich erkennen (so Hochhuth), daß wir zwar um das Paradies kämpfen, aber nicht in ihm leben können.

Alle die, die in der Vergangenheit allgemeingültige Werte schufen, haben um dieses Paradies gekämpft. Militärische Sieger suchten nahezu immer den betreffenden Gegner dadurch in seinem Lebensnerv zu treffen, daß sie seine höchsten kulturellen Werte, seine Heiligtümer zerstörten. Oft trat allerdings das Gegenteil ein. Dann erwies sich nämlich die stärkere Kultur schließlich als Sieger und zog den schembar überlegenen Sieger in ihren Bann. Das geschah bei den „siegreichen" Römern, die die griechische Kultur übernahmen, ebenso wie die Mongolen das höhere Lebensniveau der Chinesen annahmen.



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„Bäume am Fluß" (Provence 1990) Aquarell, 30 x 37 cm




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„Venezianischer Kanal", 1984 Aquarell, 28 x 42 cm

Was ist nun eigentlich Kultur? Ihre hauptsächlichen Eckpfeiler bildeten Religion, Kunst, Philosophie und Wissenschaft. Dort gab es keine Begrenzung nach oben. Nach unten war durch sittliche Übereinkunft eine Grenze festgelegt, bei deren Überschreitung der Täter mit Strafe rechnen mußte, so daß Kultur einer Weiterentwicklung des Menschen zu einer Vollkommenheit diente, wie sie in seinem Schöpfungziel festgelegt war. (Flugzeuge, Autos, Geschirrspüler, Waschmaschine usw. sind Ergebnisse der Fortschrittstechnik. Sie befriedigen weder Seele noch Geist, gehören in den Bereich der Zivilisation und erzeugen nur körperliches Wohlbefinden.) Nun kann es immer wieder vorkommen, daß die untere sittliche Grenze nicht mehr gehalten wird und sich auflöst. Die Folge ist das „Nichts ist wahr, und alles ist erlaubt." Dann brechen alle Maßstäbe zusammen, und daß Chaos tritt die Herrschaft an.

In der bildenden Kunst ist dieser Fall bereits eingetreten. Er wird die anderen Eckpfeiler nach sich ziehen.

So wird bei uns heute Kultur weder durch Anordnungen von oben, noch durch einen äußeren Feind zerstört, Kultur zerstört sich selbst, weil diejenigen, die eigentlich zu ihren Trägem auserkoren waren, zu Nihilisten wurden. Sie bringen nicht nur keine Werte mehr hervor, sondern sehen in den Werten der Vergangenheit das Hindernis für die „bessere Welt" überhaupt, das unbedingt vernichtet werden muß.

Der bisher gewaltigste Versuch in dieser Richtung, die chinesische Kulturrevolution, erwies sich ebenso wie „der große Sprung nach vom" als illusionäre Utopie. Ebensowenig dürfte in der westlichen Welt die Selbstzerstörung der alten Werte auf die Dauer erfolgreich sein. Aber es ist sicher, daß auch die westliche Kultur einer schweren Krise entgegensieht.

Wenn der Schritt zu einer Weltkultur bevorsteht, werden erst mal alle Gegenkräfte zum Zuge kommen, um die Sehnsucht nach einer allesumfassenden Kultur überhaupt zu wecken. Diese Gegenkräfte sind bereits voll am Wirken: Materialismus, subjektiver Eigensinn und egoistisches Vorteilsdenken beherrschen bereits den menschlichen Alltag. Die religiösen Belange, die früher immer Ursprung für alle geistigen Bemühungen der Menschheit Zeugnis ablegten, sind entweder den irdischen Erfolgstrieben gewichen oder ufern in pseudoreligiösen Wahn aus.

So zählt im bildnerischen Bereich nur noch ein Ziel: Was kann ich tun, um aufzufallen? Welche Beziehungen muß ich anknüpfen, um schnell zu Ruhm und Reichtum zu kommen? In diesem Wettlauf haben nur noch verrückte und ausgefallene Ideen eine Chance auf Erfolg eines kurzen Ruhms. Wichtig ist hierbei die offensichtliche Unverständlichkeit der Produkte, denn hinter ihr vermutet der Mensch wiederum den geheimnisvollen Auftakt zur besseren Welt.

Er wird von dieser Hoffnung nicht lassen, solange seine subjektive Beschränktheit mit den Gesetzen der Wirklichkeit kollidiert und ihn „frustriert".

Warum wollen wir uns denn nicht mit den Wundem der Schöpfung zufriedengeben und anhand ihrer Größe selbst wachsen? Weil es zu anstrengend ist, über sich selbst und damit über die eigene Beschränktheit hinauszuwachsen. Wir wollen es bequemer haben. Wir hoffen auf ein Erlösungswunder, das ohne unser Zutun vom Himmel fällt. Wir sind böse, wenn wir hören, daß Leben leiden heißt, und wir hier auf Erden eine Bewährungsprobe durchmachen müssen.

Wie muß sich nun der Bildmaler bewähren? Wenn er „den redlichen Gewinn sucht" und „kein schellenlauter Tor" sein will, leidet er zunächst darunter, daß er nicht machen kann, was er will. Im Gegenteil: Er muß lernen, in Demut vor die Schöpfung zu treten. Er muß sich in das Gefüge der Schöpfung einleben, was eine große Einbuße an Eigenständigkeit mit sich bringt. Er muß seine angeborene



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Weg am Meer- (La Palma)", 1982

Aquarell, 37 x 52 cm

Beschränktheit an Hand des Reichtums der Schöpfung erkennen und seine Unzulänglichkeit eingestehen. Er muß ihr höheres Walten erkennen, das weit über seinen subjektiven Ambitionen steht. Solch ein Prozess kann sich über ein ganzes Leben hinziehen und bei bescheidenen Ergebnissen enden. Auch das muß er in Kauf nehmen. Er darf sich nicht einbilden, zu Geniestreichen geboren zu sein und muß den irdischen Erfolg als eine erfreuliche Zugabe seiner Bemühungen werten, ohne dabei auch nur einem Anflug von Selbstüberschätzung zum Opfer zu fallen. Die Eitelkeit ist nämlich die stärkste und gefährlichste Eigenschaft des Menschen. Schließlich müssen ihm bescheidene Erfolge beweisen, daß er mit seiner Einfühlungsgabe in das Geschehen der Schöpfung bei einigen die Resonanz gefunden hat, die ihm bestätigt, daß sein Wirken über die Person hinaus zu einem objektiven, altgemeingültigen Ziel geführt hat, das seine physische Existenz überdauert. Früher bestand das höchste, geistige Ziel der Menschen darin, die Unsterblichkeit der Seele deutlich zu machen. Die alten Meister schrieben oft „sie" unter ihre Bilder (so ist es!). Den Mut zu dieser kühnen Behauptung vermittelte ihnen der Glaube an die Größe der. Schöpfung. So malten sie „ad majorem gloriam Dei", und standen mit ihrer beruflichen Tätigkeit im Dienste Gottes. Heute ist an die Stelle dieser Bemühungen das „nach mir die Sintflut" getreten. Die Gründe dafür sind mannigfaltig. Entscheidend dafür dürfte sein, daß die Kunst immer elitär war. Nur das Beste durfte den Anspruch auf Kunst erheben. Heute wird das Niedere, Sinnlose, Unverständliche, Schreckliche und Wertlose zur Kunst erklärt. In einer Akademieausstellung waren neulich die Wände eines ganzen Raumes mit dem Wort „Scheiße" dekoriert. Eine ehemalige Schülerin dieser Akadamie äußerte sich empört über diesen „Mist". Das hörte ein Dozent, der in der Nähe stand und entgegnete: „Wir machen ja solche Ausstellungen nicht für Laien, sondern für Profis." Man verzichtet also heute von vom herein darauf, überhaupt die Allgemeinheit anzusprechen und stempelt sich selbst durch Absurditäten zu einer Pseudoelite, die sich im Besitz des wahren Kunstverständnisses wähnt. Der Schock, den diese Minderheit im Namen der schrankenlosen Freiheit und des Fortschritts in der Kunstgeschichte ausgelöst hat, ist so lähmend, daß kaum jemand eine Entgegnung wagte. Zudem fehlen in der deutschen Sprache die Vokabeln, um einen solchen Tiefstand zu analysieren. Wenn „Scheiße" (und nicht nur das Wort) zur Kunst erklärt wird. dann verschlägt es einem die Sprache. Dieser pure Sadismus auf geistigem Gebiet spiegelt sich auch anderswo wieder, wo uns barbarische Grausamkeiten in die hilflose Lage des Kaninchen versetzen, das gelähmt auf die Schlange starrt.

Es wird wohl noch dauern, bis sich Gegenkräfte entwickeln, die diesem Verfall ein Ende bereiten. Heute wären dafür am ehesten Irrenärzte geeignet, denn alle „vernünftigen" Gegenargumente sind bisher wirkungslos geblieben. Soll man nun in dieser Entwicklung nur einen Spuk sehen, „der uns nichts angeht", wie viele sagen, und der über Nacht verschwunden sein wird? Immerhin beherrscht dieser Spuk nun schon fast ein Jahrhundert die offizielle Kunstszene. Pur die kommandierenden Funktionäre dieser Szene kommt es ausschließlich darauf an, „in" zu sein. Mit diesem „In-Sein" ist die Einstellung zur Kunst geprägt. Was danach geschieht, geht mich nichts an. Wer heute „in" ist, kann morgen schon „out" sein. (Raffael war niemals „out" und wird es auch nie sein.)

Es bleibt uns nichts anderes übrig, als den Lauf der Geschichte abzuwarten, die immer stärker ist als jedweder Zeitgeist. Außerdem besteht die berechtigte Hoffnung, daß die gegenwärtigen, geistlosen Routinegags bald langweilen, was ihr Ende bedeuten würde.

Nach dieser zeitgeschichtlichen Erörterung der Ursachen, die zum scheinbaren Tod des Tafelbildes führten, müssen wir auf eine technische Erfindung zu sprechen kommen, die einen Teil der bildnerischen Bemühungen äußerlich übernommen hat: Die Fotografie. So hört man oft Leute zu einem gegenständlichen Bild sagen: „Das kann man ja auch fotografieren. Das halten wir ja alles schon." Mit dieser oberflächlichen Betrachtung glauben sie, den qualitativen Unterschied zwischen gemaltem Bild und Fotografie ein für allemal abgetan zu haben. In der Tat haben das Bild und die Fotografie eines gemeinsam: Der Betrachter kann auf beiden wiedererkennen. Das ist aber auch schon alles. Unterschiedlich ist dann schon das „Wie" des Wiedererkennens. In dem Augenblick, wo ein Mensch vor einem Motiv wie „angewurzelt" stehen bleibt, wird er in einen höheren Aggregatzustand versetzt. Seine Sinne



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„Nach dem Regen" (La Palma), 1982 Aquarell, 37 x 52 cm

werden in vorher nicht gekannter Weise geschärft; sein Gehirn funktioniert mit ungewöhnlicher Wachsamkeit, eine tiefe Erregung erfaßt den ganzen Körper; er hat ein Erlebnis und erfährt Leben in der Verschmelzung mit dem Sein. Hat er zufällig eine Kamera bei sich, wird er mit ihrer Hilfe den Eindruck festhalten wollen, ist aber maßlos enttäuscht, wenn er später auf dem Abzug gerade das nicht wiederfindet was ihn in Ekstase versetzte. Das liegt daran, daß die Linse des Fotografenapparates dem menschlichen Auge nachgebaut ist und nur „sieht". Aber das menschliche Empfinden kann unendlich verfeinert sein und Dinge zwischen Himmel und Erde wahrnehmen, die weit über das bloß Gesehene hinausgehen. So bleibt das Foto hart und grob, während im Gemälde alle Feinheiten der menschlichen Seele verwirklicht werden können. Dort kann sein „Innenbild", das zunächst nur im Unterbewußtsein existiert, Gestalt annehmen, während die Fotografie nur das technisch-dokumentarische Abbild widerspiegelt. Die Seele oder das Gemüt können aber unendlich viele, vermittelnde Zwischentöne entdecken, die schließlich die Summe der einzelnen Gegenstände zu einer bildlichen Einheit verschmelzen lassen, die das Bild zu einem mikrokosmischen Gleichnis zum Makrokosmos erheben. Der Erfolg hängt davon ab, wieviel Prozente der Gehirnkapazität mobilisiert wurden.

Wer nun nicht einmal in der Lage ist, handwerklich gut abzumalen, und trotzdem „Künstler" sein will, macht dann eben etwas ganz anderes und erklärt es im Nachhinein zur Kunst. Dann ist es schon besser, die Fotografie als Herausforderung zu empfinden und sie durch die oben angeführten, menschlichen Möglichkeiten zu überhöhen, so daß das Bild nicht wie die Fotografie an der Netzhaut hängen bleibt, sondern in die Tiefen der Seele dringt.

Vor mir liegt ein Zeitungsfoto. Darauf ein Schrottbus, bunt bemalt und grell besprüht, halb versunken im Asphalt. Darunter steht: Machen Sie sich keine Sorgen (das ist kein Unfall) - das ist (nur) Kunst. Spiegelt sich hier der gegenwärtige Zustand unserer Gesellschaft? Dann müßte das uns eine Warnung sein. Ist es aber nicht, denn die einen sagen, endlich mal was anderes, und die schweigende Mehrheit - schweigt.

Wie wird die Geschichte entscheiden? Wir werden sehen. Ich möchte mich jedenfalls in ein Kunstwerk hineinversetzen können. Dabei ist es gleichgültig, ob es sich um ein Bild, eine Plastik, eine Dichtung oder ein Musikstück handelt. Das heißt aber nicht, daß ich mich mit dem Bildinhalt oder den Romangestalten identifizieren muß. Ich will lediglich das Wesen der behandelten Objekte vermittelt bekommen, um mit meinem eigenen Wesen dazu Stellung zu nehmen. Ein Regenschirm, ein verrosteter Kanonenofen oder ein in Filz verpackter Flügel sind bloße Objekte wie alle anderen auch und noch keine Kunstwerke. Dazu werden die erst, wenn sie durch menschliche Gestaltungskraft mit Geist erfüllt und zu einem Erlebnisträger geformt werden. Warum verzichtet man heute auf diesen Verwandlungsprozeß und befördert schon die bloßen Objekte zu Kunstwerken? Weil es viel bequemer ist, sich die geistigen und handwerklichen Anstrengungen zu ersparen, durch die die Dinge aus ihrer irdisch trägen Materie auf die Ebene einer überzeitlichen Bedeutung gehoben werden.

Sic!

Werner Rieger

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